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Von Julia Polony
Am 24. Dezember singen die Thomaner im Waldstraßenviertel. Das Kurrendesingen geht auf eine lange Tradition zurück. Früher haben sie damit Geld für ihre Ausbildung verdient.
Sein Klang ist faszinierend, unverkennbar, weltberühmt. Der Thomanerchor Leipzig singt in Gottesdiensten, gibt Konzerte und fährt zu Gastauftritten in Deutschland, Europa, der ganzen Welt. Einmal im Jahr können die Leipziger die Thomaner auch abseits von Kirchen, Opernhäusern und Sälen in Wohnvierteln erleben. Am Heiligabend. Dann tauschen die jungen Thomaner ihre Kieler Bluse, die Konzertkleidung mit dem auffallenden Matrosenkragen, gegen ganz normale Sachen ein. Sie schlüpfen in ihre Straßenschuhe, ziehen dicke Jacken an, wickeln sich einen Schal um den Hals und gehen gruppenweise durch Leipziger Stadtviertel, um auf der Straße zu singen. An diesem Abend folgen sie einer langen Tradition – dem Kurrendesingen.
Der Thomanerchor ist einer der ältesten Knabenchöre Europas, einer der bekanntesten weltweit. Die Geschichte begann 1212, als an die Thomaskirche eine Schule angegliedert wurde. Kinder aus bürgerlichen Familien wurden dort unterrichtet und musikalisch ausgebildet.
Die Musik hatte einen sehr hohen Stellenwert. Mit Auftritten bei Taufen, Hochzeiten und anderen festlichen Gelegenheiten waren sie in der Leipziger Bürgergesellschaft verankert, sicherten so ihre kostenfreie Schulbildung. Zusätzlich zogen sie viermal im Jahr durch die Leipziger Straßen, um Geld zu sammeln. „Sie konnten sich so einen Teil der Unterhaltskosten selbst ersingen“, erklärt Stefan Altner, seit 1993 Geschäftsführer des Thomanerchors Leipzig und von 1966 bis 1975 selbst Thomaner. „Die Kurrendaner sangen so lange vor den Häusern, bis sie das Geld zusammen hatten.“
Nach 1831 erlebte Leipzig einen rasanten Aufschwung, wurde größer, die Bevölkerungszahl stieg. 1837 wurde das Kurrendesingen auf den Straßen aufgegeben, das benötigte Geld konnte anderweitig gesichert werden. Allein das Singen an Heiligabend ist bis heute geblieben – in Erinnerung an das Kurrendesingen.
Ab 18 Uhr ziehen die Thomaner durch das Bach- und Waldstraßenviertel, besuchen Krankenhäuser und Altenheime. Wenn sie singen, kommen die Menschen aus ihren Häusern, lauschen am offenen Fenster, Spaziergänger bleiben stehen. Sie wollen die glockenhellen Stimmen hören, die besondere Atmosphäre erleben, die es so nur einmal im Jahr gibt. Damals wie heute ist es für die Jungen des Thomanerchors eine Möglichkeit, der Stadt und ihren Bewohnern Dankeschön zu sagen. Der Applaus und die fröhlichen Gesichter der Menschen sind der Lohn für ein lernintensives, voll gepacktes Auftrittsjahr. Und wenn es dann noch etwas Taschengeld oder kleine Aufmerksamkeiten obendrauf gibt, ist das natürlich eine zusätzliche nette Geste, die die Thomaner gerne annehmen.
DVD-Tipp: „Die Thomaner“, 2012.
Einblicke in das Internatsleben, den
Proben- und Schulalltag, Auftritte
und Konzertreisen
Acht Fragen an einen Thomaner
Max Gläser (17) kam als Neunjähriger zum Thomanerchor Leipzig. In diesem Jahr wird er zum letzten Mal am Heiligabend durch die Stadt ziehen und mit seinen Freunden Weihnachtslieder für die Bewohner singen. Im Juli 2019 endet seine Zeit als Thomaner.
Warum wolltest du Thomaner werden?
Ich singe gerne und wollte in einen Chor, aber nicht in irgendeinen. Mein Vater war auch Thomaner und somit der Bezug zu Leipzig schon da.
Wie schwer war die Aufnahmeprüfung für dich? Sie war sehr anspruchsvoll. Ich hatte wenig theoretische Vorkenntnisse, die ich in kürzester Zeit erlernen musste. Musiktheorie, Gehörbildung usw. wurden dann vertieft, als ich aktiv bei den Thomanern mitwirkte.
Was muss man können, um Thomaner zu werden? Es gehört natürlich Talent und eine gute Stimme dazu. Aber auch Disziplin und der unbedingte Wille, Teil dieser Gemeinschaft zu sein.
Was sind die größten Unterschiede zwischen dem „normalen“ Leben mit Eltern und Geschwistern und dem Internatsleben eines Thomaners? Wir wohnen in einem Stubenverbund mit Jungen unterschiedlichen Alters (4. bis 12. Klasse) zusammen. Die Älteren sind Vorbild, Helfer und Freund für die Jüngeren. Sie übernehmen Verantwortung und geben Erfahrungen weiter. Unser Tag ist streng geregelt und durchstrukturiert. Nach der Schule haben wir Registerproben und Gesamtchorproben. Einmal pro Woche kommen Stimmbildung und Klavierunterricht dazu. Außerdem finden regelmäßig Gottesdienste, Konzerte und Reisen statt. Richtig stressig wird es, wenn Klausuren anstehen. Dann bleibt wenig freie Zeit. Besonders in der Adventszeit sind sehr viele Auftritte. Wie feierst du Weihnachten? Die Älteren schmücken alles weihnachtlich und bereiten den Gabentisch für die Jüngeren vor. Jeder hat für seine Freunde Geschenke besorgt. Die stapeln sich auf den Tischen im Gruppenraum. Ausgepackt werden sie aber erst am Abend. Um 13.30 Uhr singen wir in der Thomaskirche zur Weihnachtsmotette und 16 Uhr ist die Christvesper. Um 17.30 Uhr gehen wir alle in den Kasten, so nennen wir das Alumnat, und machen uns bereit für das Singen in der Stadt. Gegen 19.30 Uhr sind wir zurück und dann ist Bescherung.
Welcher ist der schönste Moment für dich an diesem Tag? Wenn wir abends zur Bescherung gehen, das ist ein ganz besonderer Moment, sehr heimelig, sehr ruhig und besinnlich. Die Älteren haben Kerzen in der Hand und die Jüngeren kommen in den geschmückten Raum, sehen die vielen Geschenke. In diesem Augenblick der Stille fließen schon mal Tränen – einfach, weil es so schön ist.
Wie ist es, am Heiligabend nicht bei den Eltern zu sein? Mein erstes Weihnachtsfest ohne meine Familie konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen. Das war schon hart. Allerdings ist der Tagesablauf so durchgeplant, dass man keine Zeit hat, die Eltern und Geschwister zu vermissen. Außerdem ist man nicht alleine. Ich fühle mich in der Gemeinschaft sehr wohl. Nach den vielen Jahren ist es normal geworden, Heiligabend nicht zu Hause zu sein. Das Weihnachtsfest mit der Familie holen wir am 25. Dezember nach. Am Morgen nach dem Gottesdienst fahren wir nach Hause und dann ist es wie in jeder anderen Familie auch – nur dass es dann noch einmal Geschenke gibt.
Es ist dein letztes Weihnachten als Thomaner. Im Juli feierst du deinen Abschluss. Welche Pläne hast du? Ich möchte als Austauschschüler ein Jahr nach England gehen. Auf jeden Fall bleibe ich der Musik treu. Vielleicht studiere ich Chorleitung. Außerdem mache ich mit einigen Thomanern zusammen Musik in Form eines Ensembles, das den Namen „Consortium Vivente“ trägt. Wir wollen kleine Konzerte geben. Die Klassik wird unser Schwerpunkt sein, aber wir spielen auch andere Musik.
Was geht dir durch den Kopf, wenn du an deinen Abschied denkst? Die Gemeinschaft wird mir fehlen, auch diese durchorganisierten Tage. Ich weiß noch nicht, ob ich es toll finde, mich davon zu lösen. Es wird sehr anders werden.
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