Auf goldenem Boden

 

Von Andreas Reichelt

 

Wo heute des Abends das Auto auf dem Hof abgestellt wird, wurden vor nicht all zu langer Zeit Fische gezüchtet, Leinen gefärbt, Kutschen repariert oder Ziegel hergestellt. Und so manches stolze Bürgerhaus steht auf dem Grund einer ehemaligen Mühle, einer Tischlerei, eines Pferdestalls. Die Geschichte unseres Viertels ist untrennbar mit dem Handwerk verbunden. Anlass für uns, mit diesem Beitrag eine kleine Reihe zu beginnen, um dessen wichtige Rolle bei der Entwicklung unseres Viertels bis zum heutigen Tag – und darüber hinaus – zu beleuchten.

Die Anfänge
Erste Siedler des heutigen Waldstraßenviertels waren Handwerker. Seit dem 12. Jahrhundert entstanden mit der Anlage der Mühlgräben für vielfältiges Gewerbe nutzbare Wasserläufe direkt hinter den Stadtmauern. Die Fischerei in den zahlreichen Flussläufen und die Fleischwirtschaft auf den waldfreien Auewiesen waren für die Versorgung der Stadtbevölkerung von großer Bedeutung.
„Die ehemalige Angermühle (Ecke Jacob­straße/Jahnallee) war die bedeutendste Leipziger Mühle. Im Jahr 1715 hatte diese zehn Mahlgänge für Getreide, eine Ölmühle, eine Weißgerber-Walkmühle, eine Gewürzmühle, eine Leinwand-Walkmühle, eine Schleifmühle und eine Sägemühle“1. Mühle und Mühlgräben waren damit Anziehungspunkte für weitere Handwerke, die sich hier ansiedelten.

Dienstleister des Handels
Die Lage der damaligen Ranstädter Vorstadt an den wichtigen Handelsstraßen führte im 18. Jahrhundert dazu, dass sich vermehrt Hufschmiede, Sattler und Stellmacher niederließen, um Messe- und Handelsreisenden ihre Dienste beim Pferde beschlagen, bei Fuhrwerksausbesserungen oder in Gasthöfen anbieten zu können.

Messe und Industrialisierung
Mit der Entwicklung Leipzigs zur Großstadt nach 1830 stellte sich die Innenstadt fast vollständig auf Messe und Handel ein, wodurch die hier ansässigen Handwerksbetriebe in die Vorstadt auswichen. Baulichen Erweiterungen der Ranstädter Vorstadt waren jedoch durch die jährlichen Hochwasser natürliche Grenzen gesetzt, was für eine extreme Konzentration zu regelrechten Gewerbegebieten hier sorgte. So befanden sich zum Beispiel auf dem Gelände der Großen Funkenburg zu der Zeit „eine Tischlerei, ein Zimmereiplatz, das Trockengebäude einer Kattunbleiche, eine Färberei, eine Dampfwaschanstalt und eine Schokoladenproduktion“2. Im Zuge der Industrialisierung wurden einige Gewerke wie Leineweber, Färber oder Tuchmacher verdrängt und neue, für das rasante Wachstum der Stadt Ende des 19. Jahrhunderts notwendige, kamen hinzu. Dazu gehörten vor allem das Bauhandwerk, Schlossereien und Fuhrunternehmen.

Handwerker als Bauherren
Nach Anlage des Elsterbeckens und Stilllegung der Alten Elster (Friedrich-Ebert-Straße) war das Gebiet um die Waldstraße quasi neu erschlossen und  die dortigen Grundstücke konnten relativ günstig erworben werden. So wurden bereits im Viertel ansässige Maurer- und Zimmereimeister neben Ausführenden auch zu Planern, Bauherren und Eigentümern der zwischen 1850 und 1890 entstandenen Häuser. „1895 befanden sich 72 Gebäude des Viertels im Eigentum von Handwerkern“3.

Gesellschaftlich engagiert
Um 1900 bestimmte das Handwerk als mit Abstand größter Arbeitgeber auch das sozia­le Leben. Der Bau der damals „schönsten“ und weltgrößten Turnhalle, der des Turnvereins Westvorstadt an der Frankfurter Straße (Jahnallee), deren Mitglieder zu einem Drittel Handwerker waren, geht ebenso auf seine Initiative zurück wie das ehemalige Poseidonbad auf dem Gelände der heutigen SAH gGmbH Goyastraße.

Umbrüche
Die Krise Ende der 1920er Jahre und die Kriegswirtschaft ab Mitte der 1930er Jahre setzten dem Handwerk zu, notwendige Investitionen unterblieben. Die völlige Zerstörung des Naundörfchens und des Ranstädter Steinweges im 2. Weltkrieg waren die größte Zäsur. Den verbliebenen Handwerksbetrieben ist es zu danken, dass nach Kriegsende ein Großteil der zerstörten Häuser wieder aufgebaut wurden und sich das Leben in der Stadt relativ schnell normalisieren konnte. In der DDR-Zeit entwickelte das Handwerk die besondere Fähigkeit, aus planwirtschaftlich nicht vorhandenem Material tragfähige Lösungen zu entwickeln. Seiner Improvisationskunst verdanken wir den weitestgehenden Erhalt, ja die Rettung der Bausubstanz im Viertel in diesen Jahren.

Ein Ausblick
Heute steht das Handwerk vor einem ähnlichen Umbruch wie zur Zeit der Industrialisierung. Mit dem Unterschied, dass traditionelle Gewerke nicht verschwinden, sondern sich entweder digitalisieren (Schlosser werden zu Sicherheitstechnikern) oder bisherige Industrieprodukte, wie Fahrräder oder Uhren, in Manufakturen individualisieren. Und so lange man Kontaktlinsen nicht im 3D-Drucker herstellen, Uhren nicht per E-Mail reparieren und das antike Buch nicht mit Klebestift restaurieren möchte, bleibt das Handwerk auch im Viertel auf goldenem Boden.

 

Foto/Grafik: Andreas Reichelt

Quelle: Thomas Nabert, Zur Geschichte des Handwerks im Waldstraßenviertel, Waldstraßenviertel Nr. 4, Pro Leipzig 1994, 1 S. 4, 2 S. 7, 3 S. 10

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1 Kommentar

  1. Sehr interessanter und kurzweiliger Beitrag! Vielen Dank!

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