„Das Bild von der DDR, das heute in die Köpfe gebrannt ist und die Prägung Stasi, ZK, NVA trägt, ist retuschiert. So war die junge DDR nicht. Sie war, um ein Paradox zu wählen, bürgerlich ohne Bürgertum; viel bürgerlicher lange Jahre hindurch als der sich so rasch amerikanisierende Westen.“ Der das schreibt, ist nicht der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, an dessen 15. Todestag am 19. Mai wir mit diesem Beitrag erinnern wollen. Autor ist der im Februar 2015 in der Schweiz aus dem Leben geschiedene Feuilletonist Fritz J. Raddatz. Auch der junge Raddatz hatte sich – wie viele Intellektuelle der Nachkriegszeit – zunächst für ein Leben im Ostteil Deutschlands entschieden, um dann später enttäuscht in den Westen zurückzukehren. In seiner Autobiographie „Unruhestifter“ berichtet er im Anschluss an die oben zitierten Zeilen über einen Besuch bei Hans Mayer in der Leipziger Tschaikowskistraße: „In seiner mit einer formidablen Erstausgaben-Bibliothek ausgestatteten, großräumigen Leipziger Wohnung veranstaltete Hans Mayer Hauskonzerte, bei denen Ernst Bloch und der Hausherr die Schubert- und Mahler-Lieder singende Karola Bloch vierhändig am Flügel begleiteten.“ Sozialistische Propaganda stellt man sich anders vor.
…allmählich freundlich gegrüßt
Heute erinnert in der Tschaikowskistraße am Haus Nr. 23 eine Gedenktafel an den einstigen Bewohner, dem auch die AG Jüdisches Leben des Bürgervereins schon einen Abend gewidmet hat. Die Ehrenbürgerschaft der Stadt Leipzig wurde dem 1907 in Köln geborenen, aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie stammenden Befürworter eines unorthodoxen Marxismus, freilich erst postum verliehen.
Hans Mayer entging der Ermordung durch die Nationalsozialisten durch Emigration zunächst nach Frankreich, dann in die Schweiz. Seine Eltern wurden im KZ Auschwitz umgebracht. 1945 kehrte er nach Deutschland ins amerikanisch besetzte Frankfurt am Main zurück, ehe er 1948 nach Leipzig in die Sowjetische Besatzungszone übersiedelte.
Witwe Klopfer überließ dem Professor für Literaturgeschichte an der Philosophischen Fakultät „nach und nach den Hauptteil der Wohnung“ in der König-Johann-Straße, aus der dann „glimpflich“ die Tschaikowskistraße wurde, wie Hans Mayer später in seinen Erinnerungen „Ein Deutscher auf Widerruf“ berichtet. „Frau Klopfer hatte bald heraus, dass man offen mit mir reden konnte und dass ich kein Parteiabzeichen trug: weder offiziell noch insgeheim, obgleich es klar sein musste, dass ich ‚zu denen‘ gehörte. Allmählich wurde ich freundlich gegrüßt im Viertel.“
Im Hörsaal 40
Hans Mayer, der Professor ohne Parteiabzeichen, hielt seine Vorlesungen im legendären Hörsaal 40 des alten Universitätsgebäudes. Zu seinen Studenten gehörten Uwe Johnson, Christa Wolf und Volker Braun. „Ein Taxifahrer, dessen Sohn bei mir (Hans Mayer, Anm. d. Red.) studierte, erwies sich einmal als genau unterrichtet über die Debatten, die man über Hans Mayers Auffassungen von Gegenwartsliteratur in den Parteizeitungen organisierte. Er riet mir, bei meinem Standpunkt zu bleiben.“ Einer wie er, der sich mit einer Arbeit über „Georg Büchner und seine Zeit“ habilitiert hatte, ließ sich nicht in das ideologische Korsett der SED zwängen.
Von einer Reise nach Westdeutschland kehrte Mayer 1963 nicht zurück, nachdem auch der Philosoph Ernst Bloch Leipzig bereits verlassen hatte. „In Leipzig wurde ich endlich zu mir selbst erweckt“, schreibt Mayer in seinen Erinnerungen, um wenige Sätze später zu ergänzen: „Ich ging fort, als es nicht weiterging.“ Hans Mayer starb am 19. Mai 2001 in Tübingen.
Johannes Popp