Gedanken zum 9. November

Seit dem 7. Oktober steht vor dem Ariowitsch-Haus jetzt Tag und Nacht ein Polizeiauto, um das Kulturzentrum zu schützen. Das muss man sich mal vorstellen: Eine jüdische Einrichtung muss von der Polizei geschützt werden. In Deutschland, in unserer Stadt, in unserem Viertel – ausgerechnet in unserem Waldstraßenviertel. Mir läuft es jedes Mal kalt den Rücken hinunter, wenn ich daran vorbeigehe.

An diesem 7. Oktober hat die palästinensische Hamas einen bestialischen Terroranschlag auf Israel verübt. Über 1.400 Menschen wurden brutal ermordet. Sie wurden getötet, weil sie Juden sind.

Ein Satz wie ein Hammerschlag. Ein Satz, der uns hier in Deutschland aufrütteln müsste, wie sonst nirgendwo auf der Welt.

Und was erleben wir? In vielen verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen ist ein „Ja, aber…“ plötzlich eine Standardfloskel geworden, mit der Terror gegen Juden relativiert, wenn nicht gar gerechtfertigt wird. Zehntausende Menschen versammeln sich hierzulande bei Demonstrationen, auch in Leipzig. Aber nicht, um sich mit Jüdinnen und Juden solidarisch zu erklären. Ich will nicht missverstanden werden: natürlich ist es legitim zivile Opfer in Gaza zu beklagen. Aber oft genug werden die Proteste genutzt, um den Terror zu relativieren, um offen antisemitische Parolen zu skandieren und auch, um das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen.

An diesem Donnerstag gedenken wir wieder der Opfer der nationalsozialistischen Pogrome vor 85 Jahren. In Leipzig wurde damals die große Synagoge in Brand gesteckt. Wohn- und Geschäftshäuser von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern wurden zerstört und geplündert. Ab 1939 wurden sie in sogenannten „Judenhäusern“ zusammengedrängt. 24 dieser Häuser gab es allein im Waldstraßenviertel. Eine der neuen Erinnerungstafeln, die der Bürgerverein seit diesem Jahr installiert, erzählt diese Geschichte.

Am 19. September 1942 wurden die Bewohnerinnen und Bewohner des Altenheims der Ariowitsch-Stiftung mit ihren Pflegekräften ins KZ Theresienstadt und von dort ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Insgesamt 106 Leipziger Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens – nur acht überlebten den Holocaust.

Sie wurden genau aus dem Haus deportiert, vor dem heute ein Polizeiauto steht, weil Jüdinnen und Juden bei uns heute offensichtlich wieder geschützt werden müssen. Deswegen läuft es mir kalt den Rücken hinunter.

Als die Ukraine von Russland überfallen wurde, war die Solidarität bei uns riesig und sie ist es bis heute zurecht. Aber wo ist diese Solidarität jetzt? Ja, es gab ein sehr berührendes Benefizkonzert in der Peterskirche. Ja, vor dem Rathaus weht jetzt auch die israelische Flagge. Aber wo ist das offene und laute Dagegenhalten der Zivilgesellschaft gegen Judenhass und Antisemitismus? Gerade hier in Leipzig, wo die Zivilgesellschaft so oft aufgestanden ist, um deutlich Farbe zu bekennen. Warum sind wir so leise? Das frage ich mich selbst durchaus selbstkritisch.

Der 9. November ist eine gute Gelegenheit, es ganz deutlich zu sagen: Wir stehen unverbrüchlich an der Seite unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Antisemitismus ist keine Meinungsäußerung, sondern eine Straftat. Und: Beim Terror der Hamas gibt es kein „Ja, aber…“. All das müssen wir immer und immer wieder so klar formulieren und auch leben.

Denn ich will mich nicht daran gewöhnen, dass ein Polizeiauto vor dem Ariowitsch-Haus steht, um jüdisches Leben zu schützen.

Jörg Wildermuth
Vorsitzender Bürgerverein Waldstraßenviertel

Author: Jörg Wildermuth

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